„Im Universum von Stephen King gibt es keine Fortsetzungsromane!“ – Eigentlich ist diese „Weisheit“ der treuen Leserschaft des Erfolgsautors auf die Filmindustrie zu münzen. Dort gelang es in der Vergangenheit nur äußerst selten, dass eine Fortsetzung das gleiche hohe Niveau des Originals erreichte oder gar übertrumpfen konnte. Doch in den letzten Jahren fragten sich die Fans von Stephen King, was wohl aus „Doc“ geworden war – dem kleinen verängstigten Jungen aus „Shining“. In seiner Nachbemerkung zu „Doctor Sleep“ geht der Autor darauf näher ein.
[…] Bei einer Signierstunde fragte irgendjemand: „Sagen Sie mal, haben Sie vielleicht eine Ahnung, was aus dem Jungen in Shining geworden ist?“ Das war eine Frage zu diesem alten Buch, die ich mir schon selber oft gestellt hatte, zusammen mit einer anderen: Was wäre wohl aus Dannys krankem Vater geworden, wenn er die Anonymen Alkoholiker entdeckt hätte, statt auf eigene Faust zu versuchen, trocken zu bleiben?'“
Dass jeder Mensch die eigenen Eltern zum Vorbild nimmt und – bewusst oder auch nicht – deren Verhaltensmuster übernimmt, zeigt uns der Autor am Beispiel des nun erwachsenen Dan Torrance.
Die Erfahrungen, die Dan „Doc“ Torrance im Hotel Overlook machen musste, zerren noch immer an den Nerven. Der jähzornige und schließlich verrückt gewordene Vater, seine verzweifelte Mutter, die Bekanntschaft mit Richard Hallorann und den furchteinflößenden Dämonen in den Mauern des riesigen Anwesens – diese Eindrücke und Erfahrungen lasten schwer auf Dan. Der Weg zur Whiskeyflasche ist schließlich nicht weit. Er beginnt zu trinken – hemmungslos, selbstzerstörerisch (Wie der Vater, so der Sohn!). Es sind jedoch nicht allein diese Erinnerungen, welche er betäuben möchte – es ist seine „Hellsichtigkeit“. So nannte es Hallorann – sein „Shining“.
Als Dan schon fast alle Hoffnung verloren zu glauben scheint, ergibt sich für ihn eine neue Chance, sein Leben doch noch in den Griff zu bekommen. Mit „gewissen Auflagen“ eines Gönners erhält er einen Job in einem Hospitz. Mit Hilfe der AAs (der Anonymen Alkoholiker), einer gehörigen Portion Willenskraft und auch seiner besonderen Gabe gelingt es Dan, seine Alkoholsucht zu besiegen – oder zumindest unter Kontrolle zu bringen. Sein neuer Job füllt ihn aus. Er „begleitet“ sterbende Menschen auf ihr „hinübergleiten“. Er hält ihnen die Hand, spricht ihnen „im Geiste“ gut zu und schließt ihre Augen. Fortan wird Dan im Hospiz „Doctor Sleep“ genannt; ein Kosename, der ihn nicht stört oder irritiert.
Auch sein „Shining“ ist noch vorhanden. Er hat zwar die Vermutung, dass sie mit zunehmenden Alter schwächer wird, doch diese besondere Gabe ist noch greifbar. Durch diese Hellsichtigkeit erhält Dan schließlich auch Kenntnis einer weiteren hellsichtigen Person. Abra Stone, ein kleines aufgewecktes Mädchen, welches über eine mächtige Ausprägung dieser Gabe verfügt. Die erste „Begegnung“ ist schlicht, überraschend und für Dan sicher auch etwas irreführend. Doch solche Begegnungen hat doch fast jeder von uns machen dürfen, oder?
Durch Abra erfährt Dan von einer weiteren Gruppe von Menschen, welche Kenntnis über das „Shining“ besitzen. Nur ist diese Gabe für die Gruppe, welche sich im Verlauf der Erzählung „der Wahre Knoten“ nennt, überlebenswichtig. Sie dürsten geradezu danach. Was nun beginnt, ist eine Art „Roadtrip“, den beide – sowohl Dan, als auch Abra – ihr Leben lang nicht vergessen werden.
Stephen Kings ganz persönliche Erfahrungen scheinen hier einen großen Einfluss zu nehmen. Wie Dan war auch King ein schwerer Alkoholiker. Er selbst musste viele Veränderungen und tiefe Einschnitte im Leben über sich ergehen lassen, bevor er schlussendlich die „Notbremse“ ziehen konnte. Er selbst nennt es in seinem Nachwort wie folgt:
“ […] Außerdem verändert man sich. Der Mensch, der Doctor Sleep geschrieben hat, ist ein ganz anderer als der wohlmeinende Alkoholiker, der Shining schrieb, aber beide haben dasselbe Ziel: eine tolle Geschichte zu erzählen. […]“
Die Parallelen zwischen „Shining“ und „Doctor Sleep“ sind faszinierend und auch spannend. Oft habe ich während des Lesens an Szenen oder Ereignisse aus dem Hotel Overlook denken müssen. Trotzdem wird auch eine völlig neue Geschichte vom Autor erzählt. Der Schüler Dan wandelt sich zu einem Lehrer für die verängstigte Abra. Die Rollen, welche der Leser bereits aus „Shining“ zwischen „Doc“ und Hallorann kennt, finden nun ihre Fortsetzung in der Beziehung zwischen Dan und Abra.
King wäre nicht King, wenn die Geschichte zu Beginn nicht ein wenig „dahinplätschern“ würde. Doch im Gegensatz zu älteren Titeln, dauert diese Lesephase nicht lange an. Der „Wahre Knoten“ entpuppt sich als ein lebendig gewordenes „Overlook-Hotel“ – es atmet, sieht recht harmlos aus und verbirgt trotzdem Wut, Hass, Verzweiflung und Tod – ganz so wie das alte Anwesen in den Rocky Mountains.
Fazit:
Stephen King schließt den Kreis! Die Erfahrungen aus „Shining“ finden für Dan ihren Abschluss in „Doctor Sleep“. Zum Ende war ich von mir selbst überrascht. So hatte ich in der Vergangenheit noch nie einen „Kloß im Hals“ oder tränenverschleierte Augen, wenn ich einen „King-Roman“ beendet hatte. Doch das Finale dieser Reise von Dan und Abra hat es tatsächlich geschafft. Premiere!!! Auch wenn vielleicht der eine oder andere Leser „Shining“ noch nicht lesen konnte (oder wollte) – für mich ist es wichtig zu erwähnen, dass es äußerst zweckdienlich ist, diese Geschichte vor „Doctor Sleep“ gelesen zu haben. Nun – es ist sicherlich kein MUSS, doch allein für das Finale ist es eine dickes „Ausrufezeichen“ wert.
Nicht nur King-Fans werden ihre Freude an diesem Roman haben – da bin ich mir sicher!
Ich wünsche allen erholsame, spannende und gemütliche Lesestunden.
Liebe Grüße,
Olli
x Autor/in: Stephen King
x Titel: Doctor Sleep
x Genre: Thriller/Horror
x 703 Seiten
x Heyne Verlagsgruppe Random House
x ISBN: 978-3-453-26855-5