„Vielleicht Esther“ ist, als würde man mit Charon den Styx überqueren.

Vielleicht Esther von Katja Petrowskaja

Die Autorin Katja Petrowskaja erzählt auf eine ganz wunderbare poetische, zuweilen auch abgründig humorvollen und märchenhaften Art, von der Spurensuche zu ihren russisch- sowjetisch-jüdischen Wurzeln, das mein Herz Funken schlägt. Sie springt von Ast zu Ast, von Name zu Name, vor und zurück; begibt sich auf einen Streifzug durch die dunkle Geschichte des 20. Jahrhunderts und lässt mit den wenigen Anhaltspunkten vergilbter Dokumente, Zeitungsausschnitte und eigenen Reiserecherchen (u.a. nach Warschau, Kiew, Russland und Wien) Stück für Stück die Familienchronik erblühen, die mit tiefem Blick in die ost- und westeuropäische Geschichte sogar zurück bis ins 19. Jahrhundert reicht.

Vielleicht Esther

Dieses „Vielleicht“ im Titel erklärt womöglich die Ungewissheit, die sich wie ein roter Faden durch alle Geschichten zieht,  poetisiert wird und zum Nachdenken anregt. So kann sich der Vater zum Beispiel nicht mehr an den erwähnten und lebensrettenden Fikus erinnern und wahrscheinlich ist es nur der Fiktion zu verdanken, dass er überlebt hat. Selbst bei der Namensnennung seiner Großmutter gerät er ins grübeln. „Vielleicht Esther, aber alle nannten sie Babuschka oder Mutter.“ Fikus. Fikussierung. Fikton. Auch die Sprache der Stummen wird zum literarischen Bestandteil des Romans.

Ähnliche Wortspiele begegnen uns immer wieder.  Es gibt nahezu nichts, was nicht hinterfragt und reflektiert wird. Mittendrin möchte ich nach dem Schild der Athene greifen, um nicht in Stein verwandelt zu werden. Soviel lässt sich in dem metaphorischen Text hineininterpretieren, besonders wenn es um das Verstehen des Einzelnen und des Ganzen geht. So versucht die Autorin ihre Frage, ob „Verstehen“ gleich „Akzeptieren“ bedeuten kann, selbst zu beantworten. Sie schreibt über das entsetzliche Massaker von Babij Jar zur Zeit des Nationalsozialismus, die sowjetische Kollektivierung unter Stalin und damit verbunden natürlich die Millionen Menschen, die den Verbrechen Wahnsinniger zum Opfer fielen. Wie auch Esther, unzählige weitere Angehörige, Nachbarn und Freunde. Menschen die man nicht kannte und trotzdem irgendwie kennt. Mit dem Gedanken an Judas Stern flüchtet die Erzählerin in die Antike.  Aber vielleicht ist das keine Flucht. Letztlich geht es darum, Worte für das Unausprechliche zu finden. Katja Petrowskaja gelingt das.

„diese angst ist die medusa selbst, ich aber habe ein schild. meinen namen. mein name trägt ein stein in sich, peter, peter, peter, ein stein, dank eines großvaters, es hat sich gelohnt den namen zu ändern. ich werde nicht versteinern, und unschuldig bin ich auch, katerina die reine, unbefleckte, ich könnte die medusa anschauen, aber etwas hält mich zurück [..]“

Die Autorin hat sich mit ihrer Reise auf einen nie endenden Marathonlauf eingelassen. Sie läuft rückwärts, der Vergangenheit hinterher. Die Liste der Namen und Fragen wird immer länger, und auch ich habe das Gefühl, dass die Schildkröte Zenons immer ein paar Schritte voraus ist. Nichts kann rückgängig gemacht werden. Und trotzdem denkt man über das „was wäre wenn“ nach.

„Ich hatte gedacht, man braucht nur von diesen paar Menschen zu erzählen, die zufälligerweise meine Verwandten waren, und schon hat man das ganze zwanzigste Jahrhundert in der Tasche. Manche aus meiner Familie waren geboren, um ihren Berufungen nachzugehen in dem hellen, aber nie ausgesprochenen Glauben, sie würden die Welt reparieren. Andere waren wie vom Himmel gefallen, sie schlugen keine Wurzeln, sie liefen hin und her, kaum die Erde berührend, und blieben in der Luft wie eine Frage, wie ein Fallschirmspringer, der sich im Baum verfängt. In meiner Familie gab es alles, hatte ich überheblich gedacht, einen Bauern, viele Lehrer, einen Provokateur, einen Physiker und einen Lyriker, vor allem aber gab es Legenden.“

„Vielleicht Esther“ ist, als würde man mit Charon den Styx überqueren.  Die Autorin schreibt über Heimat, den Krieg, die liebe zur Sprache und zur Literatur. Katja Petrowskaja führt uns das imperialistische Streben der Großmächte nach Weltherrschaft vor Augen und geht den verwischten Spuren der Vergangenheit nach. Wie erzählt man vom Krieg, wenn da kaum noch jemand ist, den man noch fragen kann?  Sicher, der Text ist anspruchsvoll, oft sehr beklemmend, reich an Bildern und Metaphern und trotzdem verspürt man diese unfassbare Leichtigkeit die dem Text anhaftet, was angesichts des Inhalts erstaunlich ist. Ich mag die warmherzige  Sprache mit dem Wechsel ins ironische und wieder zurück. „Vielleicht Esther“ ist wie ein trauriges Lied.

 

x Autor/in: Katja Petrowskaja
x Titel: Vielleicht Esther
x Genre: Roman, Erzählung
x 285 Seiten
x Suhrkamp
x ISBN: 978-3-518-42404-9

 

Veröffentlicht von Tanja

Bücher lesen, fotografieren, Musik hören, das Meer - das brauche ich wie die Luft zum atmen.

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