Und sieh! und sieh! an weißer Wand – da kam’s hervor wie Menschenhand; und schrieb, und schrieb an weißer Wand Buchstaben von Feuer, und schrieb und schwand. Ballade „Belsazar“ von H. Heine (1797 – 1856)
Monika Held, geb. 1946 in Hamburg, scheint seit ihrem dritten Werk „Der Schrecken verliert sich vor Ort“ in aller Munde zu sein. Jetzt weiß ich warum. Der Roman, der über die Überlebenden von Auschwitz erzählt, steht übrigens seit einer Besprechung einer lieben Blogger Kollegin auf meiner Wunschliste. Doch rückte es mit jedem weiteren Eintrag immer ein Stück weit mehr nach hinten. So weit, bis ich es vergaß. Dass sich Prioritäten ständig verschieben passiert mir, angesichts der Fülle an guter Literatur, leider immer häufiger.
Die Romanheldin Jula ist Halbwaise und im Hamburg der Nachkriegszeit aufgewachsen. Es ist Zufall, dass sie nach 28 Jahren mit einem Makler in der ehemals gemeinsamen Wohnung ihrer Großmutter und ihres Onkels steht, die sie wahrscheinlich kaufen wird. Vielleicht ist es egal, ob sie mit einem Kauf alles Vergangene herbeibeschwört, obwohl sie so oder so an ihr wie an einem Fliegenfänger klebt. Was spielen Raum und Zeit da noch für eine Rolle, wenn man zwischen verschiedenen Welten stecken geblieben ist?
Es geht nicht nur darum, die Nebelwand des Schweigens zu durchbrechen, sondern auch um das Verlassenwerden, Wahrheiten, Freundschaft und um das Schicksal, dass die Menschen in Helds Geschichte gleich doppelt trifft, sie entzweit oder verbindet. Und so reist Jula – die Erzählerin, zurück ins Jahr 1954 und schleicht wie eine Katze durch ihre Kindheit.
Der Übergang von der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder zurück ist nur ein kurzer, kaum merkbarer Flügelschlag. Und dann sehe ich Jula, wie sie auf dem Schlitten in Richtung Wielandstraße, am Eilbeker Kanal vorbei, mit augestreckter Zunge Schneeflocken auffängt und wie sie nach dem Abschiedskuss ihres Vaters (der den Status eines Diplomaten inne hat) ihren Kopf streichelt, als wolle sie alles Lebendige und jedes Stück Erinnerung bewahren.
»Der Kuss saß lebendig auf meinem Kopf wie eine kleine, warme Maus. Ich konnte sie berühren und streicheln. Sie ging beim Waschen nicht verloren und ließ sich nicht auskämmen.« S. 13
Jula liebt die Wortspiele zwischen den Kartoffelschalen am Küchentisch, den Wellensittich Hansi, der ständig gegen den Globus fliegt, als wolle er in ferne Länder reisen. Und wenn ihre liebe Großmutter „Das Wintermärchen“ von Christoph Martin Wieland vorliest. Seltsame Gestalten lernt das Mädchen kennen. Als erstes ist da die Stimme und das schallende Lachen von Onkel Hans, der sich hinter seiner Tür verschanzt, gelegentlich Besuch von Flittchen mit bunten Fußnägeln empfängt, die so toll duften, dass Jula auch ein Flittchen sein will. Sie mag das Wort. Nichtsdestotrotz stellt Jula einiges verwundert fest. Was ist passiert, dass Hans seine Mutter „Rabenaas“ nennt? Warum gehen sie sich aus dem Weg, statt miteinander zu reden und warum meint er, dass Zahlen das beste Versteck sind? Fragen, auf die sie und auch ihr Schutzengel Carla keine Antwort finden. Ein bisschen versteht Jula. Zum Beispiel, warum ihre Großmutter nachts nicht schlafen kann.
»Großmutter begann den Tag, bevor es hell wurde. In der Nacht bist du nackt, sagte sie, du siehst nichts, du hörst nichts, du bist eine Schnecke ohne Haus, ein Igel ohne Stacheln, ein Vogel ohne Flügel. Nachts passieren Dinge, gegen die du dich nicht wehren kannst. Herzen hören auf zu schlagen, der Atem stockt, die Nacht zwischen drei und vier ist die Zeit der Räuber und Mörder. « S. 23
Von Hans lernt Jula, mit Zahlen zu schreiben und mit Buchstaben zu rechnen; von ihrer Großmutter, das Schutzengel niemals auf W-Fragen antworten. Der Onkel ist Autohändler, auf seinem Hof bringt er ihr alles Wissenswerte über Autos bei und schließlich sogar, wie man einen potentiellen Käufer von einem PP (Probepisser) unterscheidet. Wer Julas Onkel betrügen will, bekommt es mit Trümmer-Otto zu tun. Wie Schuten Ede und Ingemusch gehört er zu Hans besten Freunden. Sie alle kümmern sich sehr liebevoll um Jula, genauso wie die Flittchen von St. Georg. Es ist eine raue Welt mit bunten Lichtern, in der Jula aufwächst und in der ich sie traumwandelnd begleiten darf. Anders als andere Kinder in ihrem Alter, erledigt sie Hausaufgaben auf dem Nuttenboot bei Ingemusch oder in Edes Kaschemme „Wind des Lebens“, wo alte Seemannslieder spielen, nackte Frauen und Männer tanzen und zwielichtige Menschen zu Gast sind. Und während sich das Rad der Zeit immer weiterdreht, wird Ingemusch neben Hans, dessen verletzliche und bizarre Seite allmählich zum Vorschein kommt, zur engsten Vertrauten. Sie kümmert sich um Jula, spielt mit ihr Mühle und Räuberskat und hat immer ein offenes Ohr und eine gute Antwort parat, wenn das Mädchen etwas auf dem Herzen hat.
In „Trümmergöre“ rauscht der Wind des Lebens und zeitgleich der der Erinnerungen wie ein frischer Nordwind durch die Seiten. Bereits mit der ersten Seite bin ich auf phantasievolle Wortkreationen und auf Sätze gestoßen, die ich hier im Leuchtturm und etwas ausführlicher in meinem Lesetagebuch als Erinnerung bewahre. Gestrandet bin ich manchmal zwischen den Zeilen – wenn der Nebel sich lichtet, und alles Schmerzhafte und Zerbrechliche offenbart. Mensch, denke ich: „Trümmergöre“ ist so ganz anners – ein Rätsel im Rätsel im Rätsel, das nach und nach gelüftet wird. So schreibt nicht nur jemand, dessen Herz tief mit der Heimat verankert ist, sondern alle Facetten der Menschen durchleuchtet, Literatur und Sprache liebt und ihr Handwerk beherrscht. Monika Helds Schreib- und Sprachstil ist mutig, phantasie- und kraftvoll, sowie unglaublich schön zu lesen.
Hängengebliebene Wörter: Karpfenkolik, Spazazzacamini, Glasmurmeln, simsalabimsaladim
Weitere Rezensionen zu „Trümmergöre“ findet ihr bei der lieben Klappentexterin, Pinkfisch und bei Mara .
x Autor/in: Monika Held
x Titel: Trümmergöre
x Genre: Roman
x 239 Seiten
x Eichborn Verlag
x ISBN: 978-3-8479-0570-7