‚Wenn man anfängt, über die eigene Kindheit nachzudenken, dann ist sie vorbei‘
Das Leben von Nini und Jamelaah, beide 14 Jahre jung, findet auf den Berliner Straßen statt. Sie haben ihre eigenen Gesetze (ganz nach dem Motto: „You Only Live Once“), halten sich für erwachsen und unverwundbar. Sie rauchen Ott in Telefonzellen und hängen mit ihren Freunden ab. Man muss genau hinhören, um hinter jedes gesprochene Wort, Ängste und Sehnsüchte zu erkennen. Hinter der Coolness und ihrer Ironie verbirgt sich Traurigkeit. Was soll das heißen: „Die Welt ist vergiftet?“ – denken sie sich. Ihre Worte und Gedanken lassen sie durch den heißen Sommer des Großstadtdschungels treiben. Fast schwebend, denn sie haben Flügel.Während die Freundinnen durch die Straßen ziehen, mit ihrem LebenStein schleift Schere – Schnibbeln, Knobeln oder Schniekern spielen, Wörter knacken und über das Leben und die Liebe philosophieren, ziehen mich Spinnweben ganz weit nach oben – hoch hinaus in die Krone einer riesigen alten Eiche. Ich stelle mir einfach vor, dass diese Eiche im Wedding (wo meine Mutter herkommt) steht, denn ich weiß, von dort aus sehe ich den Fernsehturm, den Alex und die Lichter der Großstadt. Zumindest wenn man über die Dächer von Berlin blickt. Ich beobachte wie Nini und Jameelah ihre Tigermilch mischen und mit bis zum Oberschenkel hochgezogenen Ringelstrümpfen zum „Entjungfern üben“ die Kurfürsten entlangschlendern. Aus Katze wird ´Kotze` aus krass ´kross` , doch spätestens mit dem Rosenblütentag verlieren sie den Boden unter ihren Füßen und auch ihre Flügelfedern. Jetzt wissen sie, dass die Welt verfault, ungerecht und verlogen ist.
Stefanie de Velasco ist eine deutsche Schriftstellerin und wuchs im Rheinland auf. Sie studierte Europäische Ethnologie und Politikwissenschaft in Bonn, Berlin und Warschau. 2013 erhielt sie ein Stipendiat des Künstlerdorfes Schöppingen, anschließend ein Stipendium der Drehbuchwerkstatt München. Zu Beginn des Jahres 2014 wurde die Schriftstellerin, die in Berlin lebt und arbeitet mit dem Kranichsteiner Jugendliteratur Preis ausgezeichnet – ebenfalls für ihr Debüt „Tigermilch“. Nachdem ich ihr Debüt geradezu verschlungen habe, beginne ich mit meinen abschließenden Worten:
Die Autorin erzählt im Roman auf eine poetische unaufdringliche Weise von Freundschaft, Sehnsucht und Verlust – dem Großstadtleben, erwachsensein und werden. Und über den letzten gemeinsamen Sommer zweier Freundinnen. de Velasco lenkt unsere Aufmerksamkeit u.a. auf das Zusammenleben verschiedener Kulturen und Glaubensrichtungen, und die daraus entstehenden und bereits vorhandenen gesellschaftlichen sowie bürokratischen politischen Konflikte. Nini meint, dass ihre beste Freundin mehr deutsch ist, als sie es jemals sein werden würde, und meint damit, dass sich eine Berliner Pflanze nicht einfach so mir nichts dir nichts umpflanzen lässt. Das ist wie Folter. Jameelah und ihrer Mutter bleiben nur drei Wochen bis zur entgültigen Entscheidung auf Verlängerung des Asylantrags. Stefanie de Velasco vermeidet in ihrer Erzähl- und Schreibweise, in welcher sie sich verschiedenen Stilelementen bedient, bewusst in die Tiefe zu gehen. Diese Tiefe habe ich besonders zum Schluß vermisst. Diesen menschlichen Widerstand, gegen etwas zu rebellieren, sich zu sträuben um stattdessen mit schlimmen K Wörtern den Seelenschmerz zu lindern, habe ich nicht verstehen wollen und als ein zügiges, dennoch schönes und annehmbares Ende empfunden. Die Autorin gibt Nini die Stimme des ICH Erzählers. Nini spricht wie sie denkt. Klar und deutlich, melancholisch, provokativ, ironisch – jugendlich und ungefiltert. Gestützt durch Metaphern und bildhaften Worten. Plus neuen Wortkreationen.
„Oh-Sprache, Geld ist Gold, mit Filter drehen gibts nicht, nur mit Folter drohen.“
Mit ihrem Debüt „Tigermilch“ – dem Roman von und für (Großstadt)mädchen beweist Stefanie de Velasco meiner Meinung nach Mut, auf den eigenen Stil zu vertrauen. Mut das zu sagen, was nur hinter vorgehaltener Hand gesagt oder zugeflüstert wird, und Mut zur Kunst. Hin und wieder wünschte ich mir von allem ein bisschen mehr. Aber da richtet man sich ganz nach dem Geschmack des Lesers oder des Publikums, das man ansprechen möchte. Was ist zumutbar und was nicht? Letztenendes steht für mich mal wieder fest, das Gedanken und Worte den Blick weiten. „Tigermilch“ regt zum Nachdenken an. Jugendliteratur für wen? Für uns alle. Wird dieser Roman in der Jugendbuchabteilung zu finden sein? Wahrscheinlich nicht, wobei ich finde, dass dieses Buch im Gegensatz zur wirklichen harten Realität vieler Straßenkinder, als harmlos eingestuft werden kann. Großartig!
Ich bin gespannt womit Stefanie de Velasco uns als nächstes überraschen wird.
x Autor/in: Stefanie de Velasco
x Titel: Tigermilch
x Genre: Roman, Jugendliteratur
x 288 Seiten
x KiWi Verlag
x ISBN: 9783462045734