Sarah Kuttner hat mit „180° Meer“ einen Roman geschrieben, welcher nicht nur im Ton und in der manchmal zu einseitigen Konfrontation, an die depressive Karo aus einem ihrer vorangegangenen Romane erinnert, sondern auch an die für Kuttner typische Schwätzigkeit. Es wird weit ausgeholt, philosophiert und schwadroniert. Warum ich ihr neuestes Werk dennoch gerne gelesen habe, liegt an der eigentümlichen und schroffen Art der ICH-Erzählerin Jule. Ich war also wild entschlossen herauszubekommen, warum Jule so ist wie sie ist. So kalt, so herzlos!
»Michonne mit dem Schwert. Das bin ich.« S. 205
Ich habe Jule erst von ihrer dunklen Seite kennengelernt. Geld hat sie mit Auftritten als Sängerin in irgend so einer Berliner Spelunke verdient. Vom Lebensgefühl und der Leidenschaft, welche eigentlich vom SOUL ausgeht, spüre ich nichts. Nur der Blues, Jules innere Zerrissenheit und ihre Gleichgültigkeit geht unter die Haut. Sie ist wie ein Eisblock, von dem alles abprallt. Unschuldig flüchtet Jule sich nach der Arbeit in die Achselhöhle von Tim, ihrem Freund. Einer der wenigen Menschen, denen sie vertraut. Als dieser durch Zufall von einem Bandkollegen erfährt, dass Jule ihn betrogen hat, sind es nicht die vielen Worte die Jule dazu veranlassen alles stehen und liegen zu lassen und abzuhauen. Es ist nur ein Blick, welcher so viel mehr sagt. Jule bucht sich einen Flug nach Heathrow um ihren Bruder Jacob zu besuchen. Vor allem will sie sich jedoch von den Menschenmassen tragen lassen. U-Bahn fahren, flüchten, davon treiben, alles vergessen. Doch was sie eigentlich sucht ist 180° Meer.
»Keine Selbstanalysen, kein sich permanent selbst Beobachten, kein die gesunde Mitte finden. Generell nicht dauernd nachdenken, nachfühlen. Nur ganz oder gar nicht, Liebe oder Hass. Ich habe beides in rauen Mengen in mir. Warum kann das nicht reichen? Warum muss gesprochen und verändert und bemüht werden? Lasst uns nehmen, was wir kriegen können, und einfach gehen, wenn es nicht genug ist. Liebe oder Verachtung. So einfach.« S. 28
Bei ihrem Bruder Jakob angekommen, trifft Jule auf ein paar der anwesenden WG Bewohner. Tereza wird im Prinzip nur beiläufig erwähnt. Sie hat einen Hund namens Bruno, um den sie sich nicht kümmert. Jule die den Vierbeiner mit „Arschlochtöle“ ruft, erkennt, das die beiden etwas verbindet. Dann ist da noch Rosa. Rosa wohnt Mutterrolle und brasilianisches Feuer inne, sie ist in diesem Roman der liebenswerte und fürsorgliche Gegenpol, zur ansonsten so depressiven und nachdenklichen Stimmung.
Als Jule während eines gemütlichen Gesprächs auf der WG-Dachterasse von ihrem Bruder erfährt, dass Michael (Jules Vater) an Krebs erkrankt ist, rotzt Jule ihm ihre Gleichgültigkeit und Anteilnahmslosigkeit, all` ihren Hass, direkt vor die Füße. So das man sich fragt: Hola, was ist hier denn los? Das ist so ganz Berliner Kodderschnauze wa? Es gibt unzählige Situationen, in denen Jule so richtig aus der Haut fährt. Dieser Ausbruch, er ist zunächst nicht wirklich nachzuvollziehen, weil die Emotionen und gedanklichen Sprachfetzen teilweise so wirr und zusammenhangslos sind, dass man sie nur schwer fassen kann. Nach außen zeigt Jule sich stark, unnahbar und unangreifbar. Im Inneren der Schale steckt jedoch ein weicher Kern und so wird offenbart, wie es wirklich in Jule aussieht.
Kurz bevor ich einschlafe, bäumt sich noch etwas in mir auf, obwohl ich gar nicht sicher bin, ob Tim noch wach ist. »Weißte, kann schon sein, dass es schwerer ist, jemanden zu lieben, der sich selbst nicht mag. Aber auf der anderen Seite muss so jemand vielleicht ganz besonders liebgehabt werden. Als Unterstützung quasi. Wie Stützräder. Solche Leute brauchen Stützräder. So!« S. 129
Sarah Kuttner (* 29. Januar 1979 in Ost-Berlin) ist eine deutsche Fernsehmoderatorin, Autorin, Kolumnistin und lebt in Berlin. Die Tochter des bekannten Radiomoderators Jürgen Kuttner erlangte Bekanntheit durch ihre Arbeit als Moderatorin bei Viva, MTV und der ARD. Aktuell moderiert sie auf ZDFneo ihr eigenes Talkshowformat ›Kuttner plus Zwei‹. ›180° Meer‹ ist ihr dritter Roman, erschienen im S. Fischer Verlag.
Fazit:
„180° Meer“ ist eine Geschichte, über das gestörte Verhältnis zu Vater und Mutter. Und das Meer, diese 180° Drehung, die das Leben wendet, auf den Kopf stellt und umkrempelt. Genau darum geht es hier! Es ist vergleichbar mit einer Welle, die den verirrten und in Seenot geratenen Schwimmer wieder an Land spült.
x Autor: Sarah Kuttner
x Titel: 180° Meer
x Genre: Roman, junge Literatur
x 270 Seiten
x S. Fischer
x ISBN: 978-3-10-002494-7