Es gibt Ereignisse in der Geschichte, welche nur schwer in Worte zu fassen sind. Es ist womöglich noch schwieriger, wenn ein Autor vor dem Hintergrund des Holocaust versucht, eine Geschichte zu erzählen. John Boyne unternimmt den Versuch in seiner Erzählung „Der Junge im gestreiften Pyjama“, um dieses Problem zu lösen. Der Leser selbst darf am Ende entscheiden, ob ihm dies wirklich gelungen ist!
Bevor ich zum eigentlichen Inhalt des Buches komme, möchte ich ein wenig sensibilisieren. Durch die Aufklärung und historische Aufarbeitung ist vielen Lesern bekannt, welche Gräueltaten im Namen des Deutschen Volkes begangen worden sind. Durch diese „Zeitreise“ während der eigenen schulischen (oder auch beruflichen) Laufbahn, haben wir unsere Wissensbestände aufgefüllt und – in den meisten Fällen – Werte wie Toleranz, Aufgeschlossenheit, Menschenwürde und Nächstenliebe höher eingeschätzt, als es vielleicht noch vor dieser Informationsgewinnung der Fall war. Jeder kennt die schrecklichen Zeugnisse der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Jeder kennt die Bilder der systematischen Misshandlung und schlussendlichen Vernichtung von „minderwertigem Leben“, der politisch anders Denkenden, der Homosexuellen, Sinti und Roma und der größten Volks- und Glaubensgemeinschaft – der Juden. Nachdem wir diese Aufklärung erhalten hatten, legten wir die kindliche Naivität ab und begutachteten nun die Geschehnisse zwischen den Jahren ´33 und ´45 mit völlig anderen Augen. Um es deutlicher zu veranschaulichen, möchte ich ein Beispiel aus meiner eigenen Kindheit nennen.
Ich war 7 Jahre alt (fast 8!), als ich mit meinem Vater vor unserem Fernseher saß. Wir schalteten durch die verschiedenen Kanäle (damals gab es nur 4 Sender – wenn man Glück hatte) und blieben bei einer Dokumentation über den 2. Weltkrieg hängen. Ich hatte zuvor nie etwas vom Krieg gehört oder erfahren. Ich wusste zwar, dass meine Großväter in jungen Jahren Soldaten waren, doch ich hatte nie weiter nachfragen wollen, da es mich in diesen jungen Jahren nicht wirklich interessierte. Auf dem Bildschirm waren die Aufnahmen schwarz-weiß und ich sah plötzlich einen riesigen Panzer über den Bildschirm fahren. Dazu ertönte eine Musik, die ich zuvor nie gehört hatte. Ich sah ein Hakenkreuz auf einer Fahne, welche am Heck des Fahrzeuges befestigt war. Wobei ich dieses Zeichen nicht einmal benennen konnte – Hakenkreuz kannte ich einfach noch nicht!
Mich faszinierte dieser sehr martialisch anmutende Film und ich war fast begeistert, als ich junge Männer in Uniformen sah. Sie wirkten glücklich und unantastbar, was mir irgendwie gefiel. Die Stimme des Erzählers in diesem Film interessierte mich nicht im geringsten Maße – die Bilder sorgten für die Faszination. Da immer etwas zum Schreiben oder Malen auf dem kleinen Tisch im Wohnzimmer vorhanden war, begann ich mit dem Zeichnen eines Panzers, auf dessen Rumpf ein großes Hakenkreuz aufgemalt war. Mein Vater, der die Dokumentation anschaute und dadurch etwas abgelenkt war, nahm meine „künstlerische Tätigkeit“ nicht wahr. Erst als ich ihm mein Bild zeigte, runzelte er die Stirn und setzte eine Miene auf, die ich so noch nie gesehen hatte. Er wirkte unheimlich traurig. Mein Vater war gebürtiger Ostpreuße und im Jahr 1938 geboren worden. Er erzählte mir, nachdem er den Fernseher ausgeschaltet hatte, warum mein Bild einen Fehler aufweisen würde. Er erzählte mir zum ersten Mal, was er in jungen Jahren (also in meinem Alter!) durchleben musste. Zum ersten Mal erzählte er mir von Dingen, die mich tief erschütterten und nachdenklich stimmten. Als er seine Geschichte erzählt hatte, zerriss ich mein Bild und umarmte ihn so fest ich konnte. Niemals hätte ich geglaubt, wie viel Hass und Brutalität in der Natur des Menschen stecken können. Dieser Tag veränderte zwei Dinge – ich wollte zum einen mehr über unsere Familie erfahren; zum anderen weckte es mein Interesse für Geschichte (welches noch immer vorhanden ist). Danke, Papa!
Zum Buch:
Bruno ist ein aufgeweckter Junge im Alter von 9 Jahren. Er und seine Familie leben in Berlin – doch dies soll sich schon bald ändern. Sein Vater, der stets in Uniform durch das Haus schreitet, hat einen neuen wichtigen Posten angenommen. Dafür ist es notwendig Berlin mit der gesamten Familie zu verlassen. Einzig die Großeltern und Brunos beste Freunde bleiben zurück. Der Junge ist äußerst enttäuscht und kann nicht begreifen, warum er seine geliebte Umgebung so plötzlich verlassen muss. Als die Familie ihre „neue Heimat“ erreicht, wird die schlechte Laune nur noch mehr verstärkt. Bruno findet sich mitten im Nirgendwo wieder. Lediglich ein riesiger umzäunter Bereich, welcher am neuen Familiensitz angrenzt, bildet die neu gewonnene Nachbarschaft. Er entdeckt keinerlei Kinder – keine neuen Spielkameraden – er fühlt sich allein und im Stich gelassen.
Sein Wissensdurst ist zwar vorhanden, doch einige Dinge kommen ihm unwirklich und unbegreiflich vor. Der „Furor“ hat Großes vor und deswegen ist sein Vater mit einer neuen Aufgabe betraut worden – in Aus-Wisch! Doch warum muss er mit seiner unausstehlichen Schwester und seiner Mutter hier sein? Warum laufen ständig Soldaten im Haus auf und ab? Warum verbietet man ihm seine Erkundungsausflüge?
Trotz dieser vielen Fragen wagt es Bruno nicht, seinen Vater direkt darauf anzusprechen. Sein Vater verlangt Dinge, die nicht von ihm erklärt werden. Bruno kann sich für sein Alter ausgesprochen gut artikulieren – doch seine Wissensbestände weisen einige Lücken auf, die seine Familie anscheinend nicht schließen will.
Alles ändert sich, als Bruno gegen eine Anweisung verstößt und am Zaun entlangwandert. Dabei macht er eine Entdeckung, die alles – wirklich alles – verändern wird. Er entdeckt den Jungen im gestreiften Pyjama!
Fazit:
In seinem Nachwort schildert John Boyne sehr deutlich die Problematik, wenn man sich einem so schwierigen Kapitel wie dem Holocaust literarisch widmen möchte. In vielerlei Hinsicht tat ich mich schwer, mich dieser Erzählung hinzugeben. Boyne weist bereits zu Beginn der Erzählung darauf hin, worum es sich möglicherweise handeln könnte. Es wird immer deutlicher und der Leser blickt manchmal verwundert auf, wenn die Naivität des Jungen Bruno zum Vorschein kommt. Ist er denn wirklich blind? Sieht er denn nicht den Zusammenhang und Horror vor „der eigenen Haustür“?
Natürlich können die Leser nunmehr beginnen, dieses Buch in allen Einzelheiten auseinander zu nehmen. Der Junge ist doch 9 Jahre alt – der muss doch was wissen, wenn sein Vater ein Mann der SS war. Was ist mit seiner Schwester? War sie denn kein Mitglied des BdM? Es tauchen unheimlich viele Fragen auf, die vermuten lassen, es handele sich hier um eine schlechte Recherche des Autors. Doch das ist in meinen Augen nicht die Intention des Verfassers.
Wenn ein Autor versucht, die kindliche Zerbrechlichkeit und Naivität anhand einer Erzählung zu verdeutlichen, sollte er dieses Buch zu Rate ziehen. Boyne gelingt dieser sensible Spagat. Er zeichnet sicherlich ein etwas überspitztes Bild eines naiven Kindes – doch findet sich nicht vielleicht auch der eine oder andere Leser in Bruno wieder? Waren wir nicht auch etwas naiv und unvoreingenommen, als Schulfächer wie Geschichte noch nicht zum alltäglichen Lehrplan gehörten? Ich muss zugeben, dass ich erst zum Ende der Erzählung (vor allem nach dem hervorragenden Nachwort des Autors!) ein klares verständnisvolles Bild vor Augen hatte. Ich versuchte mich an meine eigene Kindheit zu erinnern und wie ein „Blitz aus heiterem Himmel“ fiel mir das bereits genannte Beispiel ein.
John Boyne, Der Junge im gestreifen Pyjama, Roman, 272 Seiten, Fischer Verlage (TB)