Nördlich des neunundvierzigsten Breitengrads geschieht alles etwas langsamer. Jeden Morgen hieven Tom und Charlie ihre müden Knochen aus dem Bett, strecken die schmerzenden Glieder, tappen zum Ofen, entzünden ein Feuer und braten sich Kartoffeln mit Speck. Dann sitzen sie am Fenster und begrüßen den neuen Tag. S. 67
„Ein Leben mehr“ von Jocelyne Saucier ist für mich eine wunderbare Entdeckung in diesem Bücherherbst und es ist bereits der erste Absatz, welcher mir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert hat. In diesem schmalen Buch geht es um eine Fotografin, die in Ontario nach Überlebenden der großen Brände von 1916 sucht, um sie für ihr Projekt zu portraitieren; und um drei bärtige alte Männer, die sich abseits der Zivilisation vor langer Zeit für das entbehrungsreiche Leben in der rauen Wildnis entschieden, einen Todespakt schmiedeten und sich dadurch ihre Freiheit zurückeroberten.
„Man ist frei, wenn man sich aussuchen kann, wie man lebt. Und wie man stirbt.“ S. 7
Jedenfalls erfährt die resolute Fotografin – Sauciers Hauptfigur – von einem gewissen Ted oder Ed Boychuck. Was man sich in Matheson über ihn erzählt, erscheint ihr so unwahrscheinlich, dass sie nicht anders kann, als dem Ruf der Wildnis zu folgen, um dieser geheimnisumwobenen Geschichte auf den Grund zu gehen. Es kommt genauso wie auf der ersten Seite beschrieben. Die Reise wird die Fotografin und uns Leser an einen besonderen Ort mit besonderen Menschen führen und so ziemlich alles verändern. Dass Ted nicht mehr unter den Lebenden weilt und von seinen Freunden Charly und Tom begraben wurde, hält die Fotografin jedoch nicht davon ab weiterzuforschen. Abgesehen davon muss sie ständig an die Worte einer alten Dame denken, die sich bei ihr wie eine Fotografie eingebrannt hat, ohne sie je fotografiert zu haben.
Als die Flammen bis zum Himmel schlugen, sagte die alte Frau, hatte man das Gefühl, in einem Feuermeer zu ertrinken. S. 84
Saucier überrascht mit der Vielfalt verschiedener Lebensentwürfe, in die ich hineingezogen wurde; mit verschrobenen Typen, die sich um die Alten in der Wildnis kümmern, Gras rauchen und mich trotz der emotionalen Themen, die das Leben mit sich bringt, manches Mal mit Tränen in den Augen laut auflachen ließen. Sauciers Schreib- und subtiler Erzählstil ist trotz und gerade wegen der häufigen Perspektivwechsel angenehm zu lesen. Nie hatte ich das Gefühl den Faden zu verlieren – im Gegenteil.
Es ist die mit viel Feingefühl beschriebene erste Begegnung zwischen der Fotografin und Charlie, oder wie Sauccier über die Liebe schreibt – ohne kitschig zu werden – ebenso die pure Freude darüber, dass zwei Frauen es schaffen, das Leben zweier Männer schlagartig auf den Kopf zu stellen, so dass der Tod, über den sie witzeln und philosophieren, sich in die hinterste Ecke verkriecht. Mich hat jedes Leben berührt und fasziniert, aber vor allem das der 82-jährigen Marie-Desneige.
Ich habe „Ein Leben mehr“ bei uns im Ort am See gelesen, und mir war, als säße ich an diesem versteckten See – irgendwo inmitten der nordkanadischen Wälder. Wie passend, zu meiner rechten warf ein alter Mann seine Angeschnur. Boychuck!, dachte ich nur.
Bei guter Literatur, sie muss nicht mal so dick sein wie ein gut belegtes Baguette, blättern sich die Seiten wie von selbst um. Nach der letzten Seite schlug ich das Buch zu und drückte es ans Herz. Seltsam, ich war traurig und glücklich zugleich. Es sind tiefgehende Momente. Insgesamt handelt es sich um eine zauberhaft erzählte Geschichte, in der mehrere Leben zu einer Gemeinschaft zusammenwachsen; und ich bin dankbar sie gelesen zu haben.
Schöne Worte: Silberfuchs, Ofenrohr, Dachfirst, Blechdose, Kanu
Rezensionen anderer Blogger: Literaturen, masuko13
Jocelyne Saucier, geboren 1948 in der Provinz New Brunswick, lebt heute in einem Zehn-Seelen-Ort im Wald, im nördlichen Québec. Sie arbeitete lange als Journalistin, bevor sie mit dem literarischen Schreiben begann. Ein Leben mehr, ist ihr vierter Roman.
x Autor/in: Jocelyne Saucier
x Übersetzer/in: Sonja Finck
x Titel: Ein Leben mehr
x Genre: Roman
x 191 Seiten
x Insel Verlag
x ISBN: 978-3-458-17652-7