Macht, Gier, Neid, Extremismus, Fundamentalismus, Identität, Freiheit, Liebe, die Anforderungen und der Leistungsdruck innerhalb unserer Gesellschaft – all diese Themen und noch mehr nimmt Karine Tuil in ihrem Roman „Die Gierigen“ auf, deren Figuren sich mit sozialen, politischen, juristischen und ethischen Fragen auseinandersetzen.
Wissen Sie, was Francis Scott Fitzgerald einmal gesagt hat? Ein Schriftsteller lässt nichts ungenutzt. S. 439
„Die Gierigen“ erzählt von der dramatischen Wendung einer Freundschaft und Dreiecksbeziehung und von den einzelnen Schicksalen. Die Lebensgeschichten aus der Sicht von Nina, Samir oder Samuel (mit Nina liiert) werden immer im Wechsel und in der auktorialen Perspektive erzählt. Das Konstrukt ist so aufgebaut, dass die Handlungsstränge konstant und bis zum Schluss nebeneinander her laufen. Und ja in der Tat, die Schriftstellerin lässt nichts ungenutzt. Nina, Samuel (Adoptivsohn jüdisch-orthodoxer Eltern) und die Hauptfigur Samir – mit zwanzig Jahren sind die drei Freunde und Studienkollegen unzertrennlich, sie teilen dieselben Werte, erträumen sich eine Zukunft, in der sie ihre Ideale verwirklichen wollen. Als Samuel in Israel seine tödlich verunglückten Eltern bestatten lässt, beginnt Samir eine leidenschaftliche Affäre mit Nina, und die Freundschaft zerbricht.
Sam Tahar ist intelligent, ein unersättlicher Verführer – ein Genie. Ein New Yorker Staranwalt!
Karine Tuil erzählt vom Ruhm und Fall, von der Vergangenheit und alten Rivalitäten und sogar vom Terrorismus. In einem Interview sagt die Autorin: Samir ist ihr Rastignac der Neuzeit, ehrgeizig und ambitioniert. Im Gegensatz zu seinen ehemaligen Freunden hat er als einziger sein Jurastudium mit Bestnoten abgeschlossen. Er ist der Sohn muslimischer Eltern und der festen Überzeugung, dass die Ablehnung renommierter Kanzleien allein auf seinen Namen arabischer Herkunft zurückzuführen ist. Nach dieser Enttäuschung über die Gesellschaft und über diese ganze ungerechte Welt, gibt er sich als Jude aus, übernimmt sogar Teile aus Samuels Biographie. Seine Lüge funktioniert. Er ändert seinen Namen in Sam Tahar, bekommt eine Anstellung in der Kanzlei Lévy und Queffélec und macht fortan Karriere in New York. Sam heiratet Ruth Berg, die Tochter eines reichen jüdischen Unternehmers und wird zweifacher Vater. Von Samirs Aufstieg zum Staranwalt in New York erfahren Samuel und Nina (sie ist nach Samuels Selbstmordversuch bei ihm geblieben) erst zwanzig Jahre später. Zerfressen von Neid und Mißgunst erzwingt Samuel ein Treffen, um seinen Gegenspieler zu zeigen, was er besitzt und um aufzuzeigen, dass er Nina nie besitzen wird. Er weiß, dass dies Samirs offene Wunde ist. Während Samuels Traum von einer Schriftstellerkarriere in weite Ferne rückt, sonnt sich Sam im Erfolg und genießt die Anerkennung die ihm zuteil wird. Ungeachtet dessen, Sam ist ein Opportunist, er lügt und betrügt, mit seiner charmanten charismatischen Art kommt er vor allem bei den Frauen gut an. Er ist besessen nach Sex, führt ein exzessives Doppelleben und betrügt seine Frau. Sam Tahar hat sich seine eigene künstliche Welt geschaffen, aus der es kein zurück gibt. Als sein Halbruder plötzlich in der Kanzlei auftaucht, schiebt er Panik und sucht das Gespräch mit dem Jurist Píerre Lévy.
Ein tolles Buch – auch wenn der angesprochene Konflikt zwischen Juden und Moslems und dazwischen die einseitig-negative vor allem klischeehafte Darstellung und Stigmatisierung beider Religionsgruppen ganz unterschiedliche Emotionen und Gedanken wachrufen, welche erst später ausgiebig diskutiert werden, geht es vor allem um das Streben nach Besitz, Macht und Anerkennung. Mit Mitteln, die die moralische Grenze zwar übertreten und trotzdem auf Verständnis des Lesers treffen, was sicherlich an der abgründigen Erzählkunst der Autorin liegt. Aber Verständnis heißt nicht gleich Akzeptieren. Gleichzeitig stellen wir uns die Frage: Wo sind unsere Grenzen? Wie weit würdest du gehen? Mit Ausnahme der Frauen, konnten mich alle Charaktere und selbst die vielen Randfiguren überzeugen. Eine Schlüsselfigur war für mich unter anderem der reiche Politiker der, wie Samir spät erfährt, eine heimliche Liaison mit seiner Mutter einging und sie schwängerte. Das Ergebnis ist sein mißratender kleinkrimineller Halbbruder François, der im weiteren Verlauf keine unerhebliche Rolle spielt. Nebenbei gesagt hat mich der egozentrische und selbstverliebte Politiker unterschwellig an die berühmtberüchtigte Strauss-Kahn Sex Affäre mit einem New Yorker Zimmermädchen erinnert. Schandfleck in Samirs Biographie, welche auch sehr deutlich veranschaulicht wird, ist die heruntergekommene und gefährliche Pariser Banlieue, wo die Brüder Samir und François ihre Kindheit verbracht hatten.
Wie kann es sein, dass nur eine Stunde von Paris entfernt ein solches Elend existiert? Um ihn herum nur Verfall und Zerstörung. Die Hauswände sind mit obzönen Graffiti und Macho-Sprüchen besprüht, die Bäume haben Unbekannte mit Taschenmessern entrindet, ausgeweidete Autowracks liegen in einem von Dornengestrüpp und besonders hässlichen, schwärzlich-grünen Brennesseln überwucherten Niemandsland, aus dem hier und da Ersatzteile, Altmetall und Holzpflöcke herausstechen, und dazwischen lungern Zwölfjährige herum, die mit wachsamen Blicken ihr Revier kontrollieren, immer einen Fluch auf den Lippen und ein verschlagenes Grinsen im Gesicht, immer kurz vor dem Explodieren: “Eh, komm her, willst du Stress, Alter.” Die Verwüstung der Sprache. Die Degeneration. Dealereien. Armut. S.187
Was ich mir jedoch erhofft hatte, wäre ein tieferer Einblick in Samuels dekadentes Leben gewesen, das inmitten der illustren Gesellschaft nur oberflächlich angekratzt wird und ich mir ein wenig spannender vorgestellt hatte. Vermutlich hätte das neben der Detailverliebtheit zu Samuels tragischem Schicksal und dem ganzen drumherum den Rahmen gesprengt. Mir hat vor allem das Gespräch zwischen Lévy und Samir gefallen. Die Geschichte von Samuel ist mindestens genauso spannend wie die von Samir, wenn nicht noch besser. Ich habe sie mit staunen und entsetzen gelesen.
In den Fußnoten werden häufig Personen genannt, die wie Samir und Samuel von einem besseren Leben träumen. Berühmte Zitate von J. F. Kennedy oder Martin Luther King und die Namen anderer (mir unbekannter) Literaten habe ich mir direkt notiert. Es ist schon wunderlich, denn Olivers Meinung unterscheidet sich sehr von meiner. Ich muss zugeben, dass ich ihm vor mehreren Monaten das Buch mit den Worten „ist politisch“ in die Hände drückte. Er las es bis zur Hälfte und legte es wortlos zurück. Ich hoffe trotzdem, dass er sich noch mal wie ich dazu aufraffen kann, diesem zeitlosen Gesellschaftsroman eine Chance zu geben.
Fazit:
Karine Tuil führt ihre Helden zum Ruhm und lässt sie fallen. Wie Geld, Macht und Größe einen Menschen verändern – auch davon handelt dieser großartige Roman. Ich bin positiv überrascht und hatte viele spannende Lesemomente.
BIBLIOBS L`OBS MAGAZIN : Karine Tuil „La rage des enfants d’immigrés est le sujet de mon livre“ -ein sehr interessantes Interview.
ZDF Reportage „Das andere Frankreich“
empfehlenswerte Rezensionen anderer Blogger: brasch & buch : Durchleser
x Autor/in: Karine Tuil
x Titel: Die Gierigen
x Übersetzer/in: Maja Ueberle-Pfaff
x Genre: Roman, Gesellschaftsroman
x 477 Seiten
x Aufbau Verlag
x ISBN: 978-3-351-03378-1