Über die Kriegsjahre hinweg schrieb Astrid Lindgren Tagebuch. Insgesamt soll es sich um 17 mit Zeitungsausschnitten, Fotos und Tinte gefüllte Notizbücher handeln, in denen sie den Kriegsverlauf aus der Sicht Schwedens und aus ihrer politisch interessierten und beobachtenden Perspektive akribisch festgehalten hat.
Obwohl ich diese schöne Ausgabe bereits im Januar ausgelesen hatte, beschäftigt sie mich noch immer. Vielleicht, weil sich Hässlichkeiten, oft auch das Unvorstellbare vor unseren Augen wiederholt. Der Titel passt zum aktuellen Weltgeschehen „Die Menschheit hat den Verstand verloren“. Überhaupt sind sehr viele Parallelen zu erkennen; und ehrlich gesagt erschreckt mich das. Die ersten Seiten beginnen mit einem Vorwort zur Person Astrid Lindgren und einer ausführlichen Zusammenfassung der Tagebuchaufzeichnungen. Was dieses Werk mitunter so interessant macht ist, dass uns nie zuvor die „wohlwollende Neutralität“, welche Schweden im zweiten Weltkrieg einnahm und so vom Krieg ausgespart blieb, so deutlich vor Augen geführt wurde. 1943 wird dieser deutschlandfreundliche Kurs sein Ende haben. Einiges spielt mit und sicherlich ist es auch dem Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und Russland zuzuschreiben, dass Schweden im Winter 1939 nicht in den militärischen Krieg hineingezogen wurde.
Aber von vorn! Mit Beginn des Krieges geht von Astrid Lindgren ein erstauntes Entsetzen aus, denn das hatte man dem, wie sie so schön schrieb „kleinen irren Hitler“, nicht zugetraut. Derweil rückte die rote Armee mit der Besetzung der baltischen Staaten und dem Winterkrieg, der im November 1939 an der finnisch-sowjetischen Grenze ausbrach, immer näher.
„Bei Elsa Gullander habe ich Sonntag eine Finnin getroffen, die furchtbare Sachen erzählt hat vom finnischen Krieg und wie die Russen ihre Gefangenen behandelt haben.“ (S. 62)
Dieser Eindruck im Juni 1940, die Ängste der schwedischen Bevölkerung und Lindgrens eigenen, hatte sogar dazu geführt, dass sie und ihre Nachbarn in Stalin eine größere Bedrohung sahen, als in Hitler. Aber es dauert nicht lange, bis die Schweden immer mehr Einzelheiten von der schrecklichen Barbarei der Deutschen erfahren. 1941 schrieb sie zum wiederholten Mal:
„Schade, dass man diesen Hitler nicht einfach erschießt.“
Die Nachrichten zum weltpolitischen Geschehen aus dem Radio und den Zeitungen kommentiert Astrid Lindgren mit Entsetzen, Scharfsinn und manchmal auch mit Witz. Auf ihre ganz eigene charmante bezaubernde Art. Doch zunächst zitiert sie die Nachrichten, bevor sie ihre eigenen Gedanken mit einfließen lässt. Astrid Lindgren hat aufgeschrieben, wie sich der Krieg durch minimale Einschränkungen bemerkbar gemacht hat. Kohle, Waschmittel, Butter, Milch und Zucker wurden rationiert. Im Buch ist das ein großes Thema; besonders unter den Hausfrauen in Lindgrens näherer Umgebung. Und natürlich ist beschrieben, wie sich die Kriegsjahre für ihre Familie, Nachbarn und Freunde in Schweden gestalteten. Sie macht keinen Hehl daraus, dass ihr Mann Sture und sie selbst von einigen Vorzügen profitiert haben. Die Schriftstellerin hat dabei ein Bild gezeichnet, das (wie sie übrigens selbst schrieb) in manchen Momenten fast surreal anmutet. Zum Beispiel, wenn man von Festen, ausgedehnten Spaziergängen oder von Ausflügen ins beschauliche Småland liest.
„Abends war ich bei Anne-Marie und Stellan. Wir sind im Schein des Vollmondes um Sora Essingen spaziert, in der Nase den Duft von Lindenblüten und Traubenkirsche. Himmlisch, himmlisch! Aber die Deutschen dringen im Eiltempo vor; nichts kann sie aufhalten.“(59)
Astrids Lindgren und ihre Geschichten / „Richtig glücklich bin ich nur, wenn ich schreibe.“ – Astrid Lindgren
Ich hatte als Kind nur ein Buch von ihr gelesen, nämlich die herzergreifende und abenteuerliche Geschichte „Ronja Räubertochter“. Die meisten Lindgren Geschichten kenne ich nur über die Filme. Und ja, wer ist nicht schon mal nach einem Streich mit Michel aus Lönneberga in den Holzschuppen geflüchtet, im Ballon geflogen, oder machte Ferien auf Saltkrokan? Dass die Figur Pippi 1941 – sozusagen im Schatten des Krieges – zum Leben erweckt wurde (Astrid Lindgren erfand sie für ihre Tochter Karin), wird auch in den Tagebüchern thematisiert. Ihren ersten Preis heimste sie sich jedoch mit „Britt-Marie erleichtert ihr Herz“ ein. Nur flüchtig und so ganz nebenbei geht Astrid Lindgren in ihren Tagebüchern auf ihre ersten Schreibversuche ein.
Nach dem Lesen dieses historischen und persönlichen Zeitdokuments und der daraus resultierenden neuen Wahrnehmung, gehen die Geschichten von Astrid Lindgren, wie ich finde, noch viel tiefer.
„Leben wir nicht in einem freien Land? Darf man nicht gehen, wie man möchte?“ – Pippi Langstrumpf.
Vieles eröffnet sich uns ganz neu, etwa wenn wir von A. Lindgrens Arbeit im geheimen Nachrichtendienst in der Briefzensur und ihrer Kritik zur Politik lesen, oder vom Presseverbot kritischer Zeitungen, das unter der Regierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Per Albin Hansson angeordnet wurde; oder über das, was ein Teil der schwedischen Bevölkerung über Nachrichten und Zeitungen „möglicherweise“ ziemlich früh gewusst haben muss. Das geht allein schon aus den Zeitungsartikeln, die im Buch als sogenannte Faksimiles abgedruckt und auf den nachfolgenden Seiten in deutscher Übersetzung nachzulesen sind, hervor. Ebenso aus dem Vorwort, geschrieben von Antje Rávic Strubel. 1941 Warschau – Judenstädte hinter hohen Steinmauern. (128 f, 148 f). In der öffentlichen Wahrnehmung findet die Rolle Schwedens im zweiten Weltkrieg kaum Erwähnung. Auch die Recherche im Internet lohnt nicht. Trotzdem ist es allein Schwedens Souveränität zu verdanken, dass dieser vom Krieg verschonte Flecken Erde im Jahr 1943 und in den darauffolgenden Jahren, für viele Menschen zur rettenden Insel wurde.
Selten erfährt der Leser von Astrid Lindgrens eigenem Gemütszustand. Als sich ihr Mann Sture 1944 in eine andere Frau verliebt und sich von ihr trennt, werden die Einträge im letzten Kriegsjahr immer seltener. Sie beschreibt diese für sie sehr schmerzhafte Situation mit Zurückhaltung und Poesie. So schön und traurig zugleich, dass mir während des Lesens ein riesiger Kloß im Halse steckenblieb.
Blut fließt, Menschen werden zu Krüppeln, überall Elend und Verzweiflung. Und ich kümmere mich nicht darum. Nur meine eigenen Probleme interessieren mich. Sonst schreibe ich immer ein wenig darüber, was zuletzt passiert ist. Jetzt kann ich nur schreiben: „Ein Erdrutsch ist über mein Leben hereingebrochen, und ich bleibe einsam und frierend zurück.“
Fazit:
Letztlich und ohne übertreiben zu wollen ist dieses Buch eine Bereicherung für jeden. Obgleich ich mir während des Lesens immer wieder ins Bewusstsein rufen musste, dass es sich hier nicht etwa um ein politisches Manifest handelt, sondern um ein Tagebuch, welches unverfälscht die Eindrücke des Tages- und Kriegsgeschehens aus einem mir bis dato unbekannten Blickwinkel wiedergibt. Es ist der klare Blick auf das Wesentliche und auf den Irrsinn eines jeden Krieges. Die Schriftstellerin nennt die Dinge beim Namen. Sie spricht aus, worüber geschwiegen wird. Nun, ich möchte außerdem behaupten, dass die Tagebücher ganz sicher nicht für die Öffentlichkeit geschrieben wurden, sondern vielmehr als Erinnerung für Astrid Lindgren selbst und ihre Familie. Das macht sich bemerkbar, wenn Kleinigkeiten mit losen Worten oder nur einem Satz als Anhaltspunkt aus dem Privatleben der Lindgrens Erwähnung finden. Erinnerungen, mit denen ich als Leser nichts anzufangen weiß.
So wie Astrid Lindgren die Verschonung Schwedens als ein „Wunder“ bezeichnet, so würden sicherlich viele Menschen die Veröffentlichung und Übersetzung ihrer Tagebücher als „historisch wertvoll“ und „richtig“ bezeichnen. Nichtsdestotrotz hätte eine zum Text passende Anmerkung, ein kleiner Zusatz in der Fußnote, diese ohnehin schon schöne Edition aufgewertet. Es finden sich zwischen den Zeilen und in den Faksimiles Lieder oder Gedichte von Dichtern wie von Pär Lagerkvist wieder, auch viele Zitate aus Reden von ranghohen Politikern von Seiten der Alliierten und umgekehrt. Zum einen ist da die Seeschlacht um England, 1943 ist es das Treffen in Casablanca zwischen Churchill und Roosevelt. Das Buch beinhaltet so viele interessante Details, von denen man nur wissen kann, wenn man zu jener Zeit das Geschehen selbst beobachten und mitverfolgen konnte, oder sich intensivst mit diesem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte auseinandergesetzt hat. Diese Fülle an Informationen macht es mir auch schwer, eine kurze Zusammenfassung zu schreiben, weswegen ich meine Zeilen nicht als Rezension sehe, sondern als das, was ich für mich selbst daraus (sozusagen als Zugewinn neuer Erkenntnisse) mitnehme. Auch in Anbetracht dessen, was jetzt um uns herum geschieht. Die Welt verdunkelt sich!
So fing alles an mit Pippi Langstrumpf – efraimstochter.de
http://www.astrid-lindgren.de/
Astrid Lindgren – Arte Dokumentation
x Vorwort – Nachwort: Antje Rávic Strubel, Karin Nyman
x Übersetzer: Angelika Kutsch, Gabriele Haefs
x Titel: Astrid Lindgren / Die Menschheit hat den Verstand verloren ( Tagebücher 1939/1945)
x Genre: Tagebücher & Briefe
x 576 Seiten
x Ullstein Verlag
x ISBN: 978-3-550-08121-7
Das ist ein ganz wunderbarer Artikel. Ich danke für’s Lesen!
Danke Mick, für deinen Besuch u. die netten Worte. Ich freue mich, dass du meine Zeilen gerne gelesen hast.
Liebste Grüße,
Tanja