Maria ist ein «fillus de anima», ein Kind des Herzens und damit gleichzeitig ein gewolltes und ungewolltes Kind. Sie war sechs Jahre alt, als sie die alte Schneiderin Tzia Bonaria Urrai Maria bei sich aufnahm. Ein paar Jahre später erinnert sie sich. Da wo alles seinen Anfang hat, knüpft die Geschichte an. Obwohl Anna Teresa Listru sie damals in der Obhut von Bonaria ließ, pflegt Maria weiterhin Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter und ihren Geschwistern, wenn sie an den Wochenenden bei der Ernte auf dem Weinberg (Pran`e boe) der Familie Bastiu aushilft. Im Gegensatz zu ihren Geschwistern ermöglicht ihr Bonaria eine gute Schulbildung. Maria ist ein aufgewecktes kluges Mädchen, schreibt unter strenger Beobachtung ihrer Tzia (Tante) Bestnoten und zum ersten Mal bekommt sie die Aufmerksamkeit, die ein heranwachsendes Kind braucht. Sie hat ein eigenes Zimmer, ein Bett und entwickelt mit der Zeit eine starke Bindung zu Bonaria.
… Bonaria hatte noch eine letzte Frage. «Ich wollte Sie noch etwas zu Marias Zeichnungen fragen.. was genau meinen Sie, wenn Sie sagen, dass sie ihre richtige Mutter malen sollte?» Die Lehrerin war verblüfft, mehr noch von dem Blick als von den Worten der alten Schneiderin. «Verstehen Sie mich nicht falsch, ich meine damit die natürlich Mutter, ich wollte sicher nicht Ihre Beziehung zu dem Mädchen in Frage stellen …» [..] «Für Maria ist ihre natürliche Mutter diejenige, die sie malt, wenn man ihr sagt, sie solle ihre Mutter malen.»
Maria findet, dass ihre Tante sich manchmal äußerst merkwürdig verhält. Mitten in der Nacht steht die Sechzigjährige einfach auf, verschwindet und kommt irgendwann wieder. Sie ist eine Accabadora, jeder in Soreni weiß davon, nur für Maria bleiben die nächtlichen Ausflüge ein Mysterium. Der Leser allerdings wird nicht lange im Unklaren darüber gelassen, was die Ausflüge zu bedeuten haben.
Es gibt Gedanken, die, wie die Augen der Eule, das Tageslicht scheuen. Sie entstehen in der Nacht, wo sie dieselbe Funktion haben wie der Mond: Ganze Meere von Gefühlen in irgendwelchen geheimen Winkeln der Seele zu bewegen. S.98
Worte, die mich trotz oder gerade wegen ihrer Schönheit nachdenklich stimmen, gibt es viele. So viele, dass das schmale Büchlein zwischen den Seiten mit vielen kleinen Notizzetteln bestückt ist, damit ich nicht vergesse. Michela Murgia nutzt den personalen Erzählstil. Was zunächst passiert, mag vorhersehbar erscheinen, aber das Thema berührt. Der letzte Weg geht tief ins Herz und fühlt sich wie eine befreiende Umarmung an. Da ist plötzlich völlig klar, warum die Accabadora von den Menschen im Dorf so geschätzt wird – sicherlich gibt es dafür nicht nur einen Grund.
Michela Murgia ( geboren am 3. Juni 1972 in Cabras) ist eine italiniesche Schriftstellerin, sie studierte Theologie und unterrichtete Religion. Ihr Debüt Accabadora wurde mehrfach ausgezeichnet. 2010 gab die Autorin dem ciao!Magazin – dem zweisprachigem Magazin für Italienliebhaber, eines ihrer interessantesten Interviews.
Fazit:
In Accabadora geht es um eine verschwiegene Welt in einem sardischen Dorf, um alte Riten und Legenden und um eine uns unbekannte Kultur Sardiniens; auch um Regeln über das Leben und den Tod. Mit leisen Worten verschafft die Schriftstellerin uns Zugang in eine vergangene Zeit und beschreibt, woran ihre Landsleute glaubten. „Sardinien ist nicht Italien, es gehört nur dazu“. Doch im Mittelpunkt steht ein zeitloses Thema und natürlich die Beziehung zwischen Maria und der Frau, die sie adoptierte. Für mich ist Bonaria eine mutige Frau.
x Autor/in: Michela Murgia
x Titel: Accabadora
x Übersetzer/in: Julika Brandestini
x Genre: Roman
x 176 Seiten
x dtv Verlag
x ISBN: 978-3423140478